Sonntag, 12. September 2010
Nach Santo Domingo de la Calzada
Bereits um 7:15 Uhr verließen wir mal wieder ohne Frühstück die Herberge. Der Weg leitete uns durch ein großflächiges Naherholungsgebiet. Obwohl die Strecke flach und vorwiegend über asphaltierten Wegen führte, es mal nicht regnete, kam ich nicht richtig in den Trott und war leicht knatschig. Bereits nach 2,5 Stunden hatten wir 12 km hinter uns gebracht und erreichten Navarette. Hier holten wir als erstes unser versäumtes Frühstück nach.
Nachdem ich meine Lebensgeister mit ein paar Espresso endlich erweckt hatte, ging es eine Stunde später weiter.

Jetzt lief es sich besser!

Vorbei an unzähligen Wein- und Getreidefeldern tauchte nach weiteren 7 km auf einer Anhöhe Ventosa vor uns auf. Laut Reiseführer wartete hier die Herberge „San Saturnio“ auf uns. Es war zwar erst kurz nach 13:00 Uhr, trotzdem entschlossen wir uns aber hier zu bleiben.

Um 14:00 Uhr öffnete die Hospitaliera die Pforte. Das Haus war erst kürzlich renoviert worden und befand sich in einem äußerst gepflegten und liebevoll eingerichteten Zustand. Das Zimmer war geräumig und mit 4 Doppelstockbetten ausgestattet. Weiterhin verfügte die Herberge im Haus über einen eigenen kleinen Laden, der speziell auf die Bedürfnisse der Pilger ausgerichtet war. Er bot frisches Obst, Gemüse und Brot zu solventen Preisen.
Zusehends füllte sich das Haus. Manisch und Patrick stießen zu uns, ebenfalls Michaela, die Österreicherin und Schokoladen-Harry.

Bei Schokoladen-Harry handelte es sich um einen Pensionär und Hobby-Senn. Er hatte stets ein Schokolädchen für die weibliche Mitpilgerschaft in der Tasche und war auf alles fixiert, was jung und zwei Brüste hatte.
Na ja, als Hobby-Senn war man ja vom Fach!!!
Er erzählte uns, dass er heute mit einer sehr netten Mitpilgerin gelaufen war und mit ihr wunderbare Gespräche geführt hatte.
Wer mag denn dieses holde Weib gewesen sein?????

Manisch übernahm wieder die Rolle des „Maître de Cuisine“ und zauberte eine exzellente Gemüsepfanne dank der privaten Gewürzküche der Hospitaliera.
Unser Menü für den heutigen Abend: „Frisches gedünstetes Gemüse aus der Region an italienischer Teigware“ (Nudeln)
Der Aufenthaltsraum war neben einer Sitzgruppe auch mit einem großen Esstisch ausgestattet, der 12 Personen Platz bot. Da wir mit mehreren Personen speisten, gestattete man uns hier unser Essen einzunehmen. Ein Kaminofen gehörte ebenfalls zur Ausstattung und wurde extra für unser Wohlbefinden angezündet. In gemütlicher, netter Atmosphäre nahmen wir unser Abendessen zu uns und ließen den Tag gegen 21:00 Uhr ausklingen.

Mit leiser gregorianischer Musik wurden wir am folgenden Morgen kurz nach 6:00 Uhr geweckt. Eine Stunde später saßen wir bereits am Frühstückstisch. Nach zwei Espresso und einem frischen belegten Baguette mit Käse war ich bester Laune und bereit zum Aufbruch. Wir verabschiedeten uns von der sehr netten und zuvorkommenden Hospitaliera, die im übrigen eine Österreicherin war und latschten los.
Meine Beurteilung für die Herberge, die zuvorkommenden Hospitaliera und Manisch, unserem „Maître de Cuisine“:

Ein ganzer Sack voller Muscheln.

Sandy wollte heute mal ein Stück alleine laufen und so startete ich mit Christian gegen 7:30 Uhr bei mal gerade 6°, aber trockenem Wetter. Bis Najera, wo wir auf Sandy warten wollten, führte uns der Weg wieder vorbei an Weinberge und einsam gelegenen Weingütern.
Bis auf das Knirschen der Steine unter unseren Füßen umgab uns wieder eine herrliche, erholsame und beruhigende Stille.

Nachdem wir uns in Najera mit etwas Essbaren für den heutigen Tag eingedeckt hatten, stieß auch Sandy wieder zu uns. In einer kleinen Parkanlage am Ufer des Najerilla nahmen wir unser zweites Frühstück ein und machten uns kurze Zeit später, als sich der Himmel immer weiter verdunkelte, auf den Weg nach Azofra, dem Ziel unserer heutigen Tagesetappe. Nach einem kurzen aber heftigen Anstieg am Ortsende von Najera ging es anschließend auf relativ ebnen Feldwegen unserem Tagesziel entgegen.

Nach einiger Zeit tauchte in der Ferne ein/e Mitpilger/in vor uns auf. Je näher wir dieser Person kamen, stellte sich die Frage, Männlein oder Weiblein. Nach kurzer Zeit war diese Frage geklärt. Sonnenhütchen, kurze Shorts und blickdichte Strumpfhose. Also musste es sich hier um eine weibliche Person handeln. Weiterhin machte mich ihre Gangart stutzig. Sie ging nicht, sie tänzelte leichtfüßig und schien ihre Trekkingstöcke als Taktstöcke zu nutzen.
„Seht mal, ich glaube mit der stimmt was nicht“, flüsterte ich Sandy und Christian zu.
Als wir uns unmittelbar hinter ihr befanden, hörten wir, dass sie mit heller Stimme fröhlich ein Liedchen trillerte. Sie verstummte allerdings schlagartig als wir neben ihr auftauchten und zum Überholen ansetzten. Sie warf uns einen leicht verwirrten Blick entgegen und ließ uns wortlos passieren.
„Die hat bestimmt gesoffen“, murmelte ich meinen Pilgerfreunden zu, als sich der Abstand zwischen uns und ihr wieder vergrößert hatte.
„Oder ihre Uhr tickt nicht richtig“, meinte Sandy.
Wir entfernten uns immer weiter von ihr und schenkten ihr auch keine Aufmerksamkeit mehr.
Gegen 14:00 erreichten wir Azofra, ein 300 Seelendorf inmitten von Weinfeldern gelegen. Hier haben die Jakobusfreunde zu Köln eine Herberge eingerichtet, die 80 Pilgern in Zweibett-Kabinen einen Schlafplatz bot. Eine Küche, sowie Waschmaschine und Wäschetrockner standen ebenfalls zur Verfügung.
Ich teilte meine Kabine, die nicht breiter war als mein dreitüriger Kleiderschrank, mit einem Pensionär aus Schottland. Wir kannten uns bereits aus der Herberge in Ventosa.

Heute war Dorffest. Um die Mittagszeit fand ein Umzug von der Kirche zum Dorfplatz statt. Dort fanden sich im Anschluss alle Dorfbewohner zu einem gemeinsamen Mittagsmahl ein, zu dem auch die bereits anwesenden Pilger eingeladen wurden.
Die Reste wurden im Anschluss der Herberge gestiftet. Es gab reichlich Käse, Schinken Brot und Wein, von denen sich jeder Pilger bedienen konnte.
Zum Abend hin stellte sich wieder die Frage: „Und was kochen wir heute“? Ein frischer Salat mit Putenbruststreifen wäre nicht schlecht. Also ab in den hiesigen 20 Quadratmeter großen Supermercado. Das Angebot war überwältigend. Wir verließen den Laden mit zwei Dosen Tomatensauce einer Paprika, zwei Zwiebel und einem Paket Nudeln. Dass es wieder Nudeln mit Tomatensauce gab, darauf möchte ich jetzt nicht weiter eingehen.

Am Abend besuchten wir noch kurz das auf dem Dorfplatz stattfindende „Schokoladen-Fest“. Es gab für alle Anwesenden gratis warme flüssige Schokolade mit Kekse, bis es einem aus den Ohren lief. Ein DJ sorgte für angemessene Stimmung und Tanz.

Gegen 21:00 Uhr traten wir den Heimweg an, köpften im Aufenthaltsraum noch eine Flasche Rosé-Wein und prosteten auf die spendierfreudige Dorfgemeinschaft.
Und wer stieß hier zu uns? Die Pilgerin mit der blickdichten Strumpfhose vom heutigen Vormittag. Zudem entpuppte sie sich noch als die nette Mitpilgerin von Schokoladen-Harry vom gestrigen Tag, mit der er so wunderbare Gespräche geführt hatte.
Ich nahm die Gute etwas genauer ins Auge. Gerechterweise möchte ich eins klar stellen. Sie hatte heute Vormittag nicht gesoffen, sie war lediglich eine etwas eigenartige Person.
Um 22:00 Uhr kroch ich in meinen Kleiderschrank und begab mich zur Ruhe.

Der letzte Tag

Gegen 6:30 Uhr öffnete ich den Reißverschluss meines Schlafsacks und machte mich in aller Seelenruhe startklar. Heute begann mein letzter Tag und es waren nur noch 17 km bis Sto. Domingo de la Calzada zu bewältigen.
Ich spürte schon nach dem Aufstehen, dass ich heute nicht besonders gut drauf war. Das Ende meiner Pilgerreise stand unmittelbar bevor.
Zum vorerst letztes Mal bot sich mir der Jakobsweg in einer herrlichen Grünkulisse. Es waren zwar einige leichte Anstiege zu bewältigen, aber im Vergleich zu den Pyrenäen ein Kinderspiel. Mein Körper schien sich mittlerweile an das Laufen gewöhnt zu haben. Ich redete nicht viel, da die Erlebnisse der letzten 14 Tage permanent in meinem Kopf kreisten und trottete die meiste Zeit hinter meinen beiden Pilgerfreunden her.

Es war schon eigenartig. Wir waren uns das erste mal in Bayonne am Bahnhof begegnet, hatten ein paar Worte gewechselt, und fortan, ohne dass einer beabsichtigte im Team zu laufen, für die nächsten 14 Tage aneinander kleben geblieben.
Die Chemie zwischen uns schien zu stimmen. Man hatte miteinander geflachst, gelacht, über Gott und die Welt diskutiert, geträumt von Salat mit Putenbrust, gekocht „Nudeln an.......“ es hatte immer gepasst. Man lief eine Zeit nebeneinander her, dann trennten uns wieder einige hundert Meter oder auch mehr, wenn ich mal wieder nicht aus den Socken kam und jeder war mit sich und seinen Gedanken alleine.
Gegen 14:00 Uhr erreichten wir Sto. Domingo. Die städtische Herberge hatte gerade ihre Pforte geöffnet und wir erhielten einen der ersten Plätze.
Das Haus befand sich in unmittelbarer Nähe der Kathedrale. Es bot fast 200 Pilger in mehreren Schlafräume ein Nachtlager, war großräumig angelegt und bot sämtlichen Komfort, den man sich als Pilger wünschen kann. Neben der Herberge in Ventosa war sie mit das beste Haus während meiner 14-tägigen Reise.
Eine groß angelegte Küche mit allem erdenklichen Geschirr lud regelrecht zum Kochen ein. Also machten wir uns schleunigst auf die Suche nach einem Supermarkt. Zum Glück war heute Sonntag und alle Läden waren geschlossen.
Wer weiß..... wer weiß, was zum guten Ende wieder in unseren Tellern gelandet wäre......!

Der Besuch der Kathedrale stand nun noch offen. Wie allgemein bekannt ist, wird schon seit ewigen Zeiten ein Hühnerpärchen in einem goldenen Käfig in der Kathedrale gehalten, denen man nachsagt: Wenn ein Pilger die Kathedrale betritt und der Hahn zu krähen beginnt, bedeutet es, dass der Pilger sein Ziel erreicht und in Santiago ankommt.

Dann fragen wir doch mal Herrn Hahn, wie es um uns steht!

Da zur Zeit keine Messe gelesen wurde, war die Kathedrale - wie sollte es auch anders sein - abgeschlossen. Man gelangte allerdings ins Innere über einen Nebeneingang, gegen ein kleines Eintrittsgeld von 6,50 €.
Ich glaub` mich tritt ein Pferd! 6,50€ Eintritt?
Da latsche ich von Frankreich kommend, über die Pyrenäen 230 km zu Fuß, ich betone nochmals „zu Fuß“ nach Santo Domingo um dem Hahn einen guten Tag zu wünschen und soll nun auch noch 6,50 € Eintritt zahlen?
„Köbes“ das kann doch wohl nicht dein Ernst sein. Wenigstens ein paar lächerliche Prozente, gegen Vorlage eines Credenzials, wären doch bestimmt drin gewesen. Oder?
Wenn ich unseren Dom in Köln besuche, zahle ich auch keinen Eintritt. Und er zählt immerhin zum Weltkulturerbe!
„Köbes, Köbes, jetzt bin ich sauer!

Resigniert widmeten wir uns einer kleinen Stadtbesichtigung zu. Während wir an einigen Souvenirläden vorbeischlenderten, hatte ich plötzlich den Wunsch, mir irgend ein Andenken an meine Pilgerreise zuzulegen. Genug Kitsch und Kram in Form von Jakobsmuscheln und gelben Pfeilen auf T-Shirts, Capes, Anstecknadeln und Bierkrügen wurde angeboten. Jedoch nichts dergleichen sagte mir zu.
Auf dem Rückweg zu unserer Herberge kamen wir erneut an der Kathedrale vorbei. Plötzlich hörte ich wie jemand sagte: „Die Kathedrale ist offen. Es wird gerade eine Messe gelesen“.

Nichts wie hin!

Durch das Hauptportal betraten wir das Innere der Kathedrale. Um die Teilnehmer der Messe nicht zu stören, blieb ich zuerst einmal stehen und hielt Ausschau nach dem Hühnerkäfig.
Er befand sich gleich links neben dem Haupteingang. Ich trat einige Schritte auf den Käfig zu und horchte erwartungsvoll.
Und wie sieht es mit Krähen aus....., Herr Hahn?
Nichts!
Die Pappnase gab keinen Ton von sich.

Langsam holte ich meine Kamera aus der Tasche und legte an.
Ein kurzer Blitz.... der Hahn begann laut zu krähen....., ein Mitarbeiter der Security bäumte sich vor mir auf, warf mir einen bitterbösen Blick entgegen und wies mich darauf hin, dass das Fotografieren während einer Messe untersagt sei.
Entschuldigend hob ich die Hände und die Sache war gegessen.
„Der Hahn hat gekräht. Wir werden alle in Santiago ankommen“, flüsterte ich Sandy und Christian zu.

Na, geht doch!

Zufällig fiel mein Blick auf einen kleinen schwarzen Kasten, der unmittelbar neben mir stand. „Versilberte Santo-Domingo-Münze“ 2,00 Euro. Ohne zu überlegen holte ich meine Geldbörse aus der Tasche nahm ein 2,00 Eurostück und wechselte es gegen eine „Santo Domingo Münze“. Jetzt hatte ich auch mein Andenken.
Danke Köbes!

Zum Abend hin suchten wir eine Pizzeria auf. Bei Pizza und Rotwein ließen wir den Tag ausklingen.

Gegen 22:00 stieg ich das letzte mal in meinen Schlafsack. Im Vergleich zu den vergangenen Nächten, in denen ich immer geschlafen hatte wie ein Murmeltier, ohne nur ein einziges Mal auf meine Ohropax zurückgreifen zu müssen, kam ich nun nicht in den Schlaf. Ich wälzte mich von einer auf die andere Seite. Die Erlebnisse der letzten 14 Tage liefen Revue in meinen Gedanken und bescherten mir einen unruhigen Schlaf. Im Innersten wollte ich es nicht wahrhaben, dass meine Pilgerreise hier enden würde.

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