Freitag, 11. Juni 2010
Der Abreisetag
Nachdem ich meinen bereits gepackten Rucksack zum xten Male am heutigen Tag kontrolliert hatte, ob nun auch wirklich alles vollzählig war, steckte mir meine Frau als Letztes noch ein Lunchpaket zu und der Rucksack wurde nun endgültig geschlossen.
Es konnte nichts fehlen!

Wir hatten vereinbart, dass ich ihr jeden Tag eine SMS sendete und ihr meinen gegenwärtigen Aufenthaltsort mitteilte. Sie sollte sich meinetwegen keine unnötigen Sorgen machen!
Bei unserem Abschied wünschte sie mir viel Glück und dass das eintreten würde, was ich mir von meiner Pilgerreise versprach. Mein Sohn fuhr mich zum HBF Köln, wir umarmten uns, auch er wünschte mir gutes Gelingen und Papa machte sich auf die Socken!

Als ich den Bahnsteig betrat, stand mein Thalis, der mich nach Paris bringen würde, schon bereit. Ich stieg ein, suchte mir meinen reservierten Platz und machte es mir bequem.
Mit einem leicht unwohlen Gefühl in der Magengegend und in Gedanken versunken, was in den kommenden 14 Tagen auf mich zukommen würde, sah ich aus dem Fenster und ließ das hektische Treiben auf den Bahnsteigen wie in einem Film an mir vorüber ziehen.
Ein leichter Ruck riss mich aus den Gedanken. Mein Zug setzte sich in Bewegung.
„Meine Pilgerreise begann. Jetzt gab es kein Zurück mehr!“

Nach gut 3 Stunden erreichte ich den Bahnhof Paris-Nord. Bis zu meiner Weiterfahrt mit dem Nachtzug nach Bayonne vom Bahnhof Paris-Austerlitz blieben mir noch 2 Stunden.
Da die beiden Bahnhöfe nur knappe 5 km voneinander entfernt waren, hatte ich mir vorgenommen, die Strecke zu Fuß zurückzulegen, um die Zeit zwischen Ankunft und Weiterfahrt zu überbrücken.
Ich zog meine von Hand angefertigte Skizze aus der Jackentasche, orientierte mich kurz und latschte los.
Vorbei an unzähligen Straßencafés und Restaurants, in denen noch reger Betrieb herrschte, erreichte ich nach einer guten Stunde den Bahnhof Paris-Austerlitz.
Als Erstes suchte ich auf der Anzeigetafel meine Zugnummer.
23:08 Nachtzug nach Irun. Das war er!
Es fehlte lediglich der Hinweis, von welchem Bahnsteig er abfahren würde. Bis zur Abfahrt waren noch gut 30 Minuten Zeit, also war auch keine Eile geboten.
Das klappt ja wie am Schnürchen!

Während ich durch die Bahnhofshalle schlenderte, hielt ich Ausschau nach weiteren Rucksack-Trägern. Ein Mitvierziger fiel mir ins Auge: Lodenjacke, Trekkinghose, Wanderschuhe, Rucksack und Trekkingstöcke. Unsere Blicke trafen sich für einen kurzen Augenblick. Keiner von uns beiden sagte etwas, obwohl wir mit Sicherheit denselben Gedankengang hatten:
„Ein Pilger?“

20 Minuten vor Abfahrt kam Bewegung in die Anzeigetafel. Mein Zug stand auf Gleis 4 in einem abgetrennten Bereich des Bahnhofs-gebäude. Als ich dort eintraf, hatte sich schon eine beachtliche Schlange von Mitreisenden an der Fahrscheinkontrolle, die schon auf dem Bahnsteig durchgeführt wurde, eingefunden.
Ein großer Teil von ihnen trugen Rucksäcke, Trekkingstöcke und Pilgerstäbe bei sich.
„Ahaa,“ dachte ich erstaunt, „also waren der Mitvierziger in seiner Lodenjacke und ich doch nicht die einzigen Pilger, die auf dem Weg nach Spanien waren“.
Ich legte dem Schaffner mein 17,00 Euro-Ticket vor und wartete gespannt darauf, dass er mich diskret beiseite nahm, um mich in die Verteilung der Schlafdecken und Wasserflaschen einzuweisen. Aber nichts dergleichen geschah. Er entwertete mein Ticket und ließ mich passieren.
Nachdem ich meinen Sitzplatz erreicht hatte, verstaute ich den Rucksack in der Gepäckablage und warf einen Blick auf mein Ticket: Platz 21 Mitte.
Ich stand vor Platz 21 und 22. Aber welcher Platz war der Meinige?
Etwas verunsichert nahm ich erst einmal den Fensterplatz ein, nach dem Motto, wer zuerst kommt, malt zuerst!
Das Vergnügen war allerdings von kurzer Dauer. Plötzlich stand eine ältere Dame vor mir. Mit einem giftigen Blick hielt sie mir ihr Ticket vor die Nase und deutete mit ihrem Finger auf ihre Sitznummer. Ich holte zum Gegenangriff aus, zückte mein Ticket und deutete ebenfalls auf meine Sitznummer.
In einer von mir nicht definierbaren Sprache aber mit äußerster Schärfe deutete sie auf den von mir eingenommenen Sitzplatz. Ich entnahm ihrem Gehabe, dass es sich wohl um ihren reservierten Platz handelte, auf dem ich mich niedergelassen hatte.
Mit einem „Ok ok, no problem“ erhob ich mich, murmelte mir ein „Du blöde Kuh“, in den Bart und machte ihren Platz frei.

Nachdem sie ihren Platz eingenommenen hatte, zog sie ein Buch aus ihrer Handtasche und würdigte mich keines Blickes mehr.
Immer mehr Fahrgäste strömten in unseren Waggon, unter ihnen auch Dieter ein Pensionär aus Freiburg (wie ich später erfuhr). Er fiel mir auf, da er ebenfalls wie ich, einen voluminösen Rucksack bei sich trug, an dem eine große Jakobsmuschel hing, die mit der Jahreszahl 2009 beschriftet war.
„Handelt es sich hier etwa um einen Profipilger?“.  
Unser Waggon füllte sich bis auf den letzten Platz und pünktlich um 23:08 setzte sich unser Zug Richtung Spanien in Bewegung.
Ich fuhr meinen Sitz zurück in die Schlafstellung und schloss die Augen.
Es mag vielleicht eine viertel Stunde vergangen sein, als ich von meiner rechten Seite ein leises: „Pardon Monsieur“ vernahm.
Ich öffnete die Augen und sah, dass die Giftspritze mit entschuldigender Miene neben mir stand und darauf wartete, dass ich sie vorbeiließ. „No problem“ antwortete ich und erhob mich von meinem Sitz.
Sie quetschte sich an mir vorbei und stürmte zur Toilette.
Madame schien wohl ein schwaches Bläschen zu haben.
Kurze Zeit später kehrte sie mit entspannten Gesichtszügen zurück.
Erneut erhob ich mich von meinem Sitz und ließ sie passieren.
Ein gepresstes „Merci“ kam über ihre Lippen, worauf ich mit einem „Du mich auch“ antwortete.
Entgegen meinen Befürchtungen, mich nun stündlich von meinem Platz erheben zu müssen, damit die Giftspritze auf der Toilette ihr „Bächlein“ verrichten konnte, blieb die Nacht ruhig.
Gegen 7:00 erreichte ich meinen Zielbahnhof Bayonne. Die Giftspritze saß immer noch bewegungslos mit geschlossenen Augen neben mir. Ich nahm an, dass ihr das Wasser nun bis zu den Ohren stand und sie nur darauf wartete, dass ich endlich aussteigen würde.

Als erstes begab ich mich zum Fahrkartenschalter und kaufte mir ein Ticket nach Saint Jean Pied de Port, von wo aus meine Pilgerreise beginnen sollte. Mit einem Espresso, den ich mir am Bahnhofskiosk kaufte und dem Lunchpaket, das mir meine Frau zugesteckt hatte, machte ich es mir in der Bahnhofshalle bequem und frühstückte zuerst einmal, da mir bis zur Weiterfahrt noch eine knappe Stunde Zeit blieb.
Ein junger Mann, der ebenfalls einem Rucksack bei sich trug, setzte sich zu mir. Christian aus München, der allerdings zur Zeit in Saarbrücken wohnte.
Folgende Fragen wurden als Erstes geklärt.
Wie heißt Du..... Woher kommst Du..... Wo startest Du und wie weit gehst Du? Die üblichen Standardfragen, wenn sich Pilger das erste Mal gegenüberstehen.
Während wir unseren Smalltalk hielten, kam der Mitvierziger mit seiner Lodenjacke, der mir in Paris schon aufgefallen war, an uns vorbei geschlendert und sah zu uns herüber.
„Wo geht’s hin? Nach Saint Jean Pied?“, rief ich ihm zu.
Er blieb kurz stehen, wohl etwas überrascht auf Deutsch angesprochen zu werden und kam auf uns zu.
Wir stellten uns vor. Harald aus Köln, Christian aus München.
„Ich bin der Emil aus Zürich“.
Es folgten die nächsten Wo und Wie-Fragen. Wo startest Du.... Wie weit gehst Du?
Emil offenbarte uns, dass er sich mehrere Jahre auf den Weg vorbereitet hatte und nun für 2 Monate beurlaubt war. Er wollte bis Santiago laufen.
Seine Aussage machte mich nachdenklich. Mehrere Jahre vorbereitet?
Meinen Entschluss, den Jakobsweg gehen zu wollen, hatte ich mal gerade vor einem knappen Jahr getroffen. Aber mehrere Jahre????
War ich vielleicht noch nicht reif für den Jakobsweg?
Ich ging davon aus, dass, wenn wir in Saint Jean Pied eintrafen und im dortigen Pilgerbüro unseren ersten Stempel in unser Credenzial erhalten hatten, Emil „abgehen würde, wie ein Zäpfchen“.
Als nächstes gesellte sich Alexander aus Wien zu uns. Auch er hatte sich vorgenommen bis Santiago zu laufen.
Um 8:15 setzte sich unser Bus in Bewegung. Mit mir befanden sich noch weitere 20 Pilger im Bus, die ebenfalls heute ihre Pilgerreise beginnen wollten. Der Himmel war wolkenverhangen und je näher wir uns auf Saint Jean Pied zu bewegten, je dunkler wurde es, bis es langsam zu regnen begann.

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