Dienstag, 20. Juli 2010
Pamplona und die Sierra del Perdón
Zubiri verließen wir Richtung Larrasoana auf herrlichen und einsamen Waldwegen. Die Pyrenäen hatten wir nun endlich hinter uns gebracht. Es ging zwar permanent leicht bergauf und bergab, aber im Vergleich zu den letzten 3 Tagen ein Kinderspiel.
Larrasoana ließen wir rechts liegen und wanderten auf engen Waldpfaden entlang des Rio Arga nach Irotz.


Gemeinsam mit anderen Pilgern legten wir auf einer Brücke, die uns über den Arga führte, eine Rast ein.
Der/die Eine musste Pipi, der Andere hatte einen Stein im Schuh. Der Andere war immer ich! Ich hatte andauernd einen Stein im Schuh. Was mir mitunter nicht unangenehm war. Auf diese Art konnte ich des Öfteren eine kurze Verschnaufpause einlegen. Ich erntete zwar gelegentlich das Gespött meiner beiden Pilgerfreunde:
„Harald hat ein Stein im Schuh.....ätsch....!“, aber was soll´s!
Ein bisschen Spaß musste auch sein. Auch auf einem Pilgerweg!

Nach einem kurzen Stück entlang der N 135 führte uns der Weg anschließend wieder über einsame Feldwege über Arleta nach Huarte.
Während wir auf Arleta zugingen, tauchte eine Hügelkette vor uns auf. Mein erster Gedanke war: „Wir werden doch wohl nicht über den Berg müssen“. Sandy und Christian grinsten.

Der Tag hatte so gut angefangen!

Je mehr wir ihm uns näherten, je deutlicher wurde uns, dass der Weg genau auf den Berg zuführte. Akribisch tasteten meine Augen die Flanken des Berges nach Rucksackträgern ab.
Und dann blickte ich der Wahrheit ins Auge. Etliche Pilger kämpften sich mit langsamen Schritten den Berg empor. Allerdings entging mir auch nicht, dass einige Pilger in die falsche Richtung liefen und den Berg herunter kamen.
??????????

Am Fuße des Berges stießen wir auf eine Pilgergruppe, die uns mitteilten, dass der Anstieg über den Berg total verschlampt sei und sich schon einige dort oben fest gelaufen hatten.
Es gab jedoch eine Alternativroute entlang des Arga. Er floss durch Huarte und auch durch Pamplona.
„Dann lasst uns doch am Fluss entlang laufen“, schlug ich vor. Es kamen keine Einwände und so ging es auf ebenen Wege weiter Richtung Huarte.

„De Köbes“ war heute sehr einsichtig mit mir. Ihm war wohl nicht entgangen, dass ich heute so gut wie nicht geflucht hatte!

In Huarte hatten wir plötzlich unsere Wegweiser aus den Augen verloren. Kein Pfeil, keine Jakobsmuschel war in Sicht. Wir begegneten zwar einigen Pilgern, aber von ihnen lief jeder in eine andere Richtung. Sogar die Einheimischen, die wir nach dem rechten Weg fragten, waren sich nicht einig. Der Eine zeigte nach rechts, der Andere nach links, der Dritte schaute dumm aus der Wäsche und zuckte mit den Schultern.
Zum Glück war Huarte nicht größer als Köln-Müngersdorf. Nach einem ungewolltem Sightseeing fanden wir den Arga wieder, nahmen ihn zu unserer Linken und kurze Zeit später entdeckten wir unseren ersten gelben Pfeil, der uns den Weg nach Pamplona wies.

Für heute hatten wir uns vorgenommen, in Pamplona in der „Casa Paderborn“ zu nächtigen. Diese Herberge wurde von den Jakobusfreunden zu Paderborn geführt und hatte unter Pilger einen sehr guten Ruf. Also nichts wie hin!
Gegen 15:00 trafen wir in der Herberge ein und ergatterten die letzten drei freien Betten. Wir wurden von zwei sehr netten deutschen Hospitaleros empfangen. Mir sind leider ihre Namen entfallen, also nenne ich sie kurz Hans-Dieter und Veronika.
Hans-Dieter führte uns in sein Büro, bat uns an seinem großen alten Schreibtisch Platz zu nehmen und unsere Credenziale vorzulegen.
Ich kam mir vor, als wenn ich in meine Kindheit zurückversetzt wurde und vor meinem damaligen Schuldirektor saß. Hans-Dieter schlug mit ernster Mine sein Gästebuch auf und notierte unsere Personalien. Im Anschluss gab es den Stempel in unser Credenzial, wir zahlten 5,00 Euro für die Übernachtung und 2,00 Euro für das Frühstück. Preisleistungsverhältnis: 5 Sterne oder wie man in Pilgerkreisen sagt: „5 Muscheln“
Auf die Frage hin, ob sie uns etwas zu trinken anbieten könnte, antwortete ich: „Ein Kaffee wäre gut“!
„Kaffee?“, Veronikas Stimme hatte einen leichten vorwurfsvollen Unterton. „Kaffee gibt es hier nicht. Nur Wasser oder Früchtetee.“
Wasser hatte ich für heute schon genug getrunken, also nahm ich einen „leckeren“ Früchtetee.
Während ich ohne knullen und mullen meinen Früchtetee schlürfte, wandte ich mich nochmals an Veronika.
„Und was gibt es morgen zum Frühstück“?
„Kaffee“ und Toast!“
Ich pfiff erleichtert und leise durch die Zähne.

Die Herberge verfügte über eine Waschmaschine und einen Trockner. Veronika bot uns an, sollten wir schmutzige Wäsche haben, diese gerne gegen einen Obolus von 6,00 Euro für uns zu waschen und zu trocknen. Dieses Angebot nahmen wir gerne an, füllten ein Körbchen mit unserer Schmutzwäsche, entrichteten 2,00 Euro pro Nase und zwei Stunden später stand unser Körbchen Buntwäsche im Flur, gewaschen und getrocknet bereit zum Abholen.

„5 Muscheln“

Die Herberge hatte allerdings keine Küche. Man gab uns eine Empfehlung für eine nahe gelegene Pizzeria, die wir am frühen Abend aufsuchten und uns mit einem Pilgermenü stärkten. Natürlich gehörte auch hier zum Menü eine Flasche Rotwein.
0,5 l der 0,75 l Flasche Rotwein flossen durch meine Kehle. Den restlichen Flascheninhalt teilten sich Sandy und Christian.

Nachdem wir unser Menü verzehrt hatten und auch die Flasche keinen Tropfen Wein mehr her gab, machte ich mich leicht angeschossen auf den Rückweg zur Herberge.
Ich hatte einmal wieder die Arschkarte gezogen und belegte erneut ein Bett in der oberen Ebene eines Doppelstockbetts.
Nachdem ich mein Bett nach dem dritten Anlauf erklommen hatte, es mag wohl an dem leckeren Weindl gelegen haben, tauchte mein Bettnachbar auf. Ein Düsseldorfer!!!!! Der kam mir gerade recht!!!
Kölner und Düsseldorfer sind sich im Normalfalle spinnefeind. Wir machten keine Ausnahme und zogen uns gegenseitig hoch. Zur Freude unserer übrigen Zimmergenossen und -genossinnen. Gegen 22:00 schlich sich auch die Ruhe in unser Zimmer ein und alle fielen ins Land der Träume.

Um 6:00 wurden wir erneut mit einem „Ave Maria“ geweckt.
Ich horchte auf!
Saß Hans-Dieter etwa an einem alten Harmonium, pumpte mit immer schwerer werdenden Beinen Luft in den mittlerweile porösen Blasebalg und spielte unter höchster Konzentration, keinen Ton zu vergeigen, für uns das „Ave Maria“??
Stand eventuell Veronika neben ihm und begleitete ihn mit ihrer Stimme???
In einer Sache war ich mir allerdings sicher. Es war ein Harmonium! Ein solches Stück schmückte für einige Jahre mal mein Wohnzimmer.

Nachdem Hans-Dieter den letzten Luftzug aus seinem Blasebalg gequetscht hatte, vielleicht war es auch nur eine CD, warf ich einen Blick aus dem Fenster. Wie sollte es auch anders sein, es goss wie aus Eimern. Seit Beginn meiner Pilgerreise war noch kein Tag vergangen, ohne dass ich unter mein Regencape schlüpfen musste.

Gegen 7:30 waren wir zum Aufbruch bereit. Dummerweise ließen wir uns von Hans-Dieter auch noch unsere Rucksäcke wiegen. In der Annahme mein Sack würde samt 1 Liter Wasservorrat maximal 10 kg wiegen, wurde ich sehr enttäuscht. 12 kg wog der scheiß Sack. Ich schleppte schon seit 4 Tagen einen Rucksack mit mir herum, der für mein Körpergewicht 4 kg zu schwer war. Sandy´s und Christian´s Rucksäcke waren ebenfalls zu schwer und hatten 12 kg.
Langsam wurde ich knatschig. Scheiß Wetter, scheiß Rucksack und der Hinweis von Hans-Dieter „Vergesst nicht, ihr seit Pilger und keine Touristen“!

„Köbes....Köbes....!!!!

Durch zum Teil enge verwaiste Gassen, es war Sonntag und noch keine 8:00, führte uns die Muschel quer durch Pamplona. Wir kamen an einer Bäckerei vorbei, aus deren Eingangstür uns der Duft frisch gebackener Croissants entgegen strömte.
Stopp! Jetzt musste ich mir etwas Gutes tun. Ich ging in den Laden und kaufte jedem von uns drei ein Croissant. Genussvoll ließ ich das Croissant auf meiner Zunge zergehen.
Allmählich besserte sich meine Laune. Nach einer dreiviertel Stunde hatten wir den Stadtrand von Pamplona erreicht. In der Ferne erblickten wir die Sierra del Perdón mit ihren gewaltigen Windkrafträdern. Für heute hatten wir uns vorgenommen, das 22 km entfernte Puente la Reina zu erreichen.

Nachdem wir Pamplona nun endlich hinter uns gelassen hatten, ging es auf gut begehbarem Weg leicht bergauf. An einem herrlich gelegenen Bergsee kurz vor Zariquiegui legten wir eine kurze Rast ein.


Der/die Eine musste Pipi, während ich mal wieder einen Stein im Schuh hatte. Der Anstieg wurde nun zusehends steiler, aber noch immer gut begehbar.
Hinter Zariquiegui verwandelte sich der Weg allerdings in eine reinste Schlamm- und Lehmpiste, was den Aufstieg noch mehr erschwerte. Gelegentlich musste ich anhalten und meine Schuhsohlen von einer dicken Lehmschicht befreien, da es sich lief, wie auf Eiern. Ich wurde zusehends langsamer, während sich Sandy und Christian immer weiter von mir entfernten.
Gegen Mittag lief ich wieder auf die Beiden auf. Sie hatten kurz unterhalb des Bergrückens nochmals eine Rast eingelegt und warteten auf mich.

Das Wetter hatte sich etwas erholt. Mitunter riss die Wolkendecke auf und die Sonne kam zum Vorschein. Voller Stolz blickte ich zurück auf das 10 km entfernt liegende Pamplona. Hier oben herrschte fast absolute Stille. Nur ein leises Surren der Rotorblätter war zu hören.
Nachdem ich mich von den Strapazen der letzten 4 Stunden weitgehend erholt hatte, setzten wir uns wieder in Bewegung. Je näher wir dem Bergrücken entgegen kamen, desto lauter wurden die Windgeräusche der riesigen Rotorblätter, deren Schatten gespenstisch über uns hinweg fegten.
Nach einer knappen halben Stunde hatten wir endlich den Bergrücken erreicht.


Hier oben herrschte ein kräftiger Wind. Wir schossen schnell ein paar Erinnerungsphotos am Pilgerdenkmal, überquerten die Landstraße, die über den Bergrücken führte und schon ging es auf steinigem Weg steil bergab Richtung Puente la Reina.

Da quält mach sich gute 4 Stunden einen Berg hoch, freut sich über das, was man geleistet hat, macht 10 Schritte und schon geht`s wieder bergab!

Nach weiteren 3 km legten wir kurz vor Uterga nochmals eine kurze Pause ein. Bis Puente la Reina waren es noch 5 km. Plötzlich tauchte Alexander aus Wien hinter uns auf. Er war leicht angeschlagen, hatte verhärtete Waden und kühlte permanent mit Eisspray.
In Anbetracht, dass Sandy und Christian noch einen Abstecher nach Santa Maria de Eunate etwas abseits vom Jakobsweg, einem kleinen Kirchlein mit Herberge, die den Templerrittern zugesprochen wurden, ins Auge gefasst hatten, wären nochmals gute 4 km hinzu gekommen. Mir schmerzten mittlerweile die Beine und große Lust am Laufen hatte ich für heute auch keine mehr. Der Alto del Perdón hatte mich mal wieder einiges an Kraft gekostet. Wir kamen überein, dass wir noch bis Uterga laufen und dort in der Herberge übernachten wollten. Alexander schloss sich uns an und wir latschten zu viert weiter.

Es war früher Nachmittag und noch reichlich Platz in der Herberge. Sandy und Christian ließen ihre Rucksäcke zurück und machten sich auf den Weg nach Eunate. Als erstes sprang ich unter die Dusche. Anschließend erklomm ich mein Bett - mal wieder in luftiger Höhe - und hielt ein Schläfchen.
Nach einer guten Stunde war ich weitgehend fit, nahm mein Tagebuch und machte es mir im Aufenthaltsraum auf einem Sofa bequem, machte mir Notizen in mein Tagebuch und ließ die letzten Tage nochmals Revue passieren.
Ich war jetzt den fünften Tag in Folge unterwegs. Hatte fast 90 km hinter mich gebracht und mir noch keine einzige Blase gelaufen.

Gut, dass ich 2,5 Meter Blasenpflaster an Bord hatte!

Zum Nachmittag hin begann es zwar immer in den Waden und den Schulterblättern zu ziehen, aber ansonsten fühlte ich mich gut. Mein Kopf war frei und ich spürte wie mein Inneres immer ruhiger wurde. Wenn ich mal nicht wieder schimpfend wie ein Rohrspatz vor einem Abstieg stand, ließ ich meine Seele baumeln.

Gedanken kamen - Gedanken gingen!

Man lief und lief. Egal wie steinig und schwer der Weg war. Der Mythos Jakobsweg hatte einen in den Bann gezogen. Man wurde angetrieben von einer innerlichen Kraft und den übrigen Pilgern, die einem auf dem Weg begegneten. Alle hatten ein Ziel vor Augen, in Santiago anzukommen.
Sandy, Christian und ich liefen nun auch schon den dritten Tag zusammen. Der Zufall hatte uns zusammengeführt. Man startete gemeinsam, lief eine Zeit lang nebeneinander her, plauderte, diskutierte oder machte Witze.
Immer wieder zog sich unsere kleine Gruppe auseinander. Jeder ging für sich alleine und irgendwann liefen wir wieder aufeinander auf, machten gemeinsam Rast und beratschlagten, in welcher Herberge wir heute nächtigen wollten.
Das war Sandys Ressort. Sie studierte akribisch unsere Reiseführer und fand immer eine gute Herberge für uns. Christian achtete darauf, dass ich ihnen nicht abhanden kam.

Während ich im Aufenthaltsraum so vor mich hin döste, kam mir plötzlich die Situation vom heutigen Morgen in den Sinn, als Hans-Dieter meinen Rucksack gewogen hatte. 12 kg waren effektiv zu viel!
Wie von einer Tarantel gestochen, sprang ich auf, eilte schnellen Schrittes in unseren Schlafraum, schnappte mir meinen Rucksack, warf ihn auf mein Bett und sprang hinterher.
Halt! Jetzt habe ich etwas übertrieben. Ich sprang nicht hinterher, ich hangelte mich hoch. Oben angekommen, nahm ich den Sack, stülpte ihn um und kippte den ganzen Müll auf mein Bett.
Ich hatte wirklich nur das eingepackt, was von Pilgern empfohlen wurde.
Nach dem Motto: Brauche ich, brauche ich nicht, begann ich zu sortieren. Das Häufchen „brauche ich nicht“ fiel allerdings bescheiden aus. Darunter befanden sich 5 Meter Kordel, gedacht als Wäscheleine, brauchte ich nicht. Dafür hatte ich Ersatzschnürsenkel mit eingepackt. Sie würden es auch tun, wenn man sie aneinander knotete. Feuchtes Toilettenpapier, Feuchttücher für die Hände und eine Flasche Desinfektionsmittel.
Mittlerweile waren Sandy und Christian auch wieder von ihrer Stippvisite zurück.
Freundlich wie ich bin, bot ich ihnen die edlen Reiseutensilien „brauche ich nicht“ als Geschenk an. Sie jedoch lehnten dankend ab, nach dem Motto:
„Deinen Scheiß kannst du selber tragen“!
Also alles wieder zurück in den Rucksack. Trennen konnte ich mich von dem Scheiß auch nicht!
Ab Morgen, nahm ich mir vor, üppig zu duschen und die doppelte Menge Duschgel zu verwenden. Mit meiner Zahnpflege würde ich genau so verfahren.
Am Abend nahm ich mit Alexander aus Wien und drei Pilgern, die aus Australien angereist waren, ein Pilgermenü zu mir. Der Wirt war spendabel und stellte uns gleich zwei Flaschen Rotwein auf den Tisch, die von uns bis auf den letzten Tropfen geleert wurden. Der Wein war vorzüglich und ich bekam große Lust, mir kräftig einen auf die Lampe zu gießen. In Anbetracht, dass morgen wieder Laufen angesagt war, verzichtete ich allerdings darauf und ging brav ins Bett.

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