Donnerstag, 29. Juli 2010
Über Lorca nach Villamajor de Monjardin
Bei wolkenlosem Himmel und strahlendem Sonnenschein verließen wir gegen 7:30 die Herberge von Uterga. Der Weg führte uns auf schmalen Pfaden abseits jeglicher Zivilisation, vorbei an Felder und Weiden nach Obanos. Die tief stehende Morgensonne ließ die Landschaft um uns in einem goldgelben Licht erscheinen. Die Sonne stand uns im Rücken und unsere Schatten eilten uns voraus. Es machte richtig Spaß zu laufen und die Schönheit der Landschaft auf sich einwirken zu lassen.
Nach ca. 2 Stunden erreichten wir Puente la Reina. Als Erstes suchten wir ein Postamt auf, da sich Sandy entschlossen hatte, ihre Ersatz-Schuhe und einen Pullover nach Hause zu schicken, aus Gründen der Gewichtsreduzierung ihres Rucksacks. Anschließend deckten wir uns mit ein paar Lebensmittel für den heutigen Tag ein und pausierten unter der alten Pilgerbrücke von Puente la Reina.

Beim Überqueren der Brücke übersah ich einen Betonpoller, der eigentlich dafür vorgesehen war, vierrädrige Fahrzeuge an der Durchfahrt zu hindern, und schlug mir mein Schienbein blutig.
Sandy, die hinter mir ging und mein Missgeschick beobachtet hatte, bekam daraufhin einen derartigen Lachanfall, dass ich mir ernsthafte Gedanken wegen ihrer Gesundheit machte.

Hinter Puente la Reina führte uns der Weg zunächst auf relativ ebenen Wegen Richtung Maneru. Kurz vor Maneru stand mir wieder ein kurzer steiler Anstieg bevor, der mich kräftig ins Schwitzen brachte, zumal die Sonne auch ihren Teil dazu bei tat und das Thermometer auf gute 25° ansteigen ließ.
Vorbei an den ersten Weinfelder der Weinbau Region Rioja ging es weiter nach Cirauqui. Wo sollte der Ort auch anders liegen?; Natürlich auf einem Berg.
Gepeinigt von der Mittagssonne lechzte ich nach einer eiskalten Cola. Ich quälte mich durch die steilen engen Gassen des Dorfes hinauf zur Kirche San Román, an der der Jakobsweg unmittelbar vorbeiführte. Als ich den Rathausplatz erreichte, saßen Sandy und Christian vor einer kleinen Bäckerei und warteten auf mich. Und was stand für mich auf dem Tisch bereit?
„Eine eiskalte Flasche Cola“.

Danke ihr Lieben!

Nachdem wir eine halbe Stunde pausiert hatten, ging es die letzten steilen Meter hinauf zur Kirche. Im Eingang des Kirchturms stand ein kleines Pult mit einem Stempel und Stempelkissen bereit. Wir versahen unsere Credenziale mit einem weiteren Stempel und setzten unseren Weg fort.
Steil bergab ging es zunächst vorbei an Zypressen und über eine noch von den Römern erbaute einbogige Brücke. Anschließend überquerten wir die Autobahn, bevor der Weg über die tausendjährige römische Handelsstraße, die in jedem Reiseführer genannt wird, uns Richtung Estella führte.


Der Marsch über jene besagte Handelsstraße war sehr kraft aufwendig. Auf Grund ihres Alters war sie in einem so miserablen Zustand, dass man höllisch Acht geben musste, sich nicht die Fußgelenke zu verletzen. Nach 7,5 Stunden und zurückgelegten 20 km erreichten wir am Nachmittag Lorca.

In einer privaten Herberge, zu der auch eine Gaststätte gehörte, machten wir Halt und entschlossen uns hier zu nächtigen.
Man brachte uns in einem 8-Bettzimmer unter, in dem bereits ein Student aus Deutschland sein Lager aufgeschlagen hatte. Erfreut über unsere Anwesenheit quatschte er uns so die Ohren voll, dass ich Reißaus nahm und mir einen ruhigen Platz auf der Dachterrasse suchte. Kurze Zeit später erschien auch Christian auf der Terrasse. Ihm war das Gelaber ebenfalls auf den Senkel gegangen und war geflüchtet. Er gesellte sich zu mir und Alexander aus Wien, der auch in unserer Herberge ein Quartier gefunden hatte. Er war ebenfalls vor 3 österreichischen Pilgern auf der Flucht, die in der Herberge gegenüber nächtigten.

Heute war wohl die halbe Pilgerschaft vor irgendwelchen Mitpilgern auf der Flucht!

Während wir am folgenden Morgen beim Frühstück saßen, humpelte die deutsche Labertasche auf uns zu. Wir verdrehten die Augen und waren gespannt mit welcher Story er uns nun beglückte.
Er erzählte uns brühwarm, dass er in der vergangenen Nacht eine junge Französin aus lauter Mitgefühl mit zu sich in seinen Schlafsack genommen hatte, da die Arme ihren moralischen hatte und sich verlassen und alleine fühlte.........??
Mir war die Arme allerdings am vorherigen Nachmittag schon aufgefallen. Meines Erachtens hatte sie bereits zu dieser Zeit schon etwas zu tief in ihr Weinglas geschaut.

Für sein vorbildliches samariterhaftes Verhalten gegenüber einer weiblichen Mitpilgerin hätte man ihm eine goldene Jakobsmuschel in Form einer Anstecknadel verleihen müssen!

Gegen 8:00 verließen wir die Herberge und machten uns bei leicht bewölktem Himmel auf den Weg über Villatuerta nach Estella. Der Weg führte uns mal wieder abseits der Zivilisation durch eine herrliche Grünlandschaft.
In Estella legten wir eine größere Pause ein, stärkten uns mit einem zweiten Frühstück, bevor es weiterging zum Kloster Irache.
Am Weinbrunnen der hiesigen Weinkellerei genehmigten wir uns gegen Mittag ein Glas bzw. einen Becher Rotwein, der bekannterweise gratis aus einem Hahn fließt und tranken auf unsere ersten 100 zurückgelegten Kilometer. Anschließend stand eine kurze Besichtigung der Klosteranlage im Raum.
Als wir die Eingangshalle des Klosters betraten, stand links neben der Pforte hinter einem Pult ein älterer Herr, gekleidet in einem grauen Kittel, schwarzer Hose, einem schwarzen hochgeschlossenen Pullover und einem weißen Hemd. In der Annahme, dass es sich hier um einen der Patres handelte, schritten wir ehrfürchtig auf ihn zu und baten um einen Stempel in unser Credenzial.
Nachdem wir jenen erhalten hatten, verschwand er in einem angrenzenden Raum, der sich hinter dem Pult befand und kehrte kurze Zeit später wieder zurück. Allerdings ohne seinen Kittel.
Erstaunt klebte mein Blick auf seien Pullover. Ein süßes Lacoste- Krokodilchen schmückte seine Brust.

Na ja, die Mode der Neuzeit macht auch vor den Pforten eines Klosters nicht halt!

Weiter ging es auf steinigem Weg vorbei an Weiden und Wälder leicht bergauf und bergab Azqueta entgegen. Der kurze Anstieg nach Azqueta ließ mich wieder einiges an Kraft kosten. Sandy und Christian entfernten sich zusehends, da ich mal wieder nicht aus den Socken kam. Als auch ich endlich den Ortsrand erreicht hatte, saßen beide auf einer Bank und warteten mal wieder auf mich.


Sie hatten bereits unseren Reiseführer studiert und teilten mir mit, dass es bis nach Villamajor de Monjardin, wo sich die nächste Herberge befand, noch knappe 3 km zu laufen wäre. Ich schlug vor, dass sie sich schleunigst auf die Socken machen sollten, um noch 3 Schlafplätze für uns zu ergattern, da die Herberge lediglich über 28 Betten verfügte. Gesagt, getan, die Beiden brachen auf, während ich noch eine Viertelstunde pausierte. Der Weg führte nun stetig bergauf, vorbei an einem 1000-jährigen maurischem Brunnen, dem ich aber wenig Beachtung schenkte, da ich möglichst schnell mein Ziel erreichen wollte.
Als ich Villamajor erreichte, wartete Christian bereits am Ortseingang auf mich.
Die Herberge war noch geschlossen und öffnete ihre Pforte erst in einer Stunde. Allerdings standen schon so viele Rucksäcke vor der Pforte wie Schlafplätze zur Verfügung standen.
„Das sind ja rosige Aussichten“, bemerkte ich missmutig.
Als Alternative stand in der einzigen Kneipe im Ort ein Matratzenlager zur Verfügung oder noch weitere 12 km bis Los Arcos zu laufen.
Mit dem Gedanken nochmals 12 km dranzuhängen, konnte ich mich allerdings überhaupt nicht anfreunden, da ich schon meine 20 km hinter mich gebracht hatte und es mir für heute reichte.

Allerdings die kommende Nacht auf einem Matratzenlager zu verbringen, womöglich noch mit Krabbeltierchen als Untermieter, dazu hatten wir auch keine große Lust.
Während unser Gedanken zwischen Krabbeltierchen und Los Arcos hin und her pendelten, öffnete sich die Herbergstür und der Hospitalero bat alle Pilger ins Haus. Innerhalb weniger Minuten waren alle Schlafplätze belegt.
Sandy und Christian wurden im Nebenhaus der Herberge in einem 5- Bettzimmer mit eigener Dachterrasse untergebracht. Da in ihrem Zimmer noch 3 Betten nicht belegt waren, machte sich Christian sofort auf die Suche nach mir. Ich warf ihm meinen Schlafsack entgegen, forderte ihn auf, umgehend ein weiteres Bett zu belegen, packte meine restlichen Sachen und ab ins Nebenhaus.


Herrlich! Das Zimmer war zwar klein, hatte aber eine eigene Toilette mit Waschbecken und wie gesagt eine geräumige Dachterrasse hoch über den Dächern von Villamajor mit einer einmaligen Fernsicht.

Danke Köbes!

Kurze Zeit später zogen noch Manisch und Patrick bei uns ein. Manisch war gebürtiger Afghane lebte in Aachen und war mit seinem Freund Patrick aus Hagen unterwegs.
Nachdem ich mein obligatorisches Schläfchen gehalten hatte, verbrachte ich den Rest des Tages bis zum gemeinsamen Abendessen in der Herberge, auf unserer Sonnenterrasse.
Die Herberge wurde von einem holländischem Ehepaar und einer Dänin geführt. Hier bekam ich das mit Abstand geschmackvollste Gericht serviert, das ich auf meiner Pilgerreise zu mir genommen hatte.
Als Vorspeise servierte man uns einen Salatteller, das Hauptgericht bestand aus einem kräftigen Hackbraten mit leicht angerösteten Kartoffelscheiben und einer gut gewürzten Sauce. Als Dessert gab es einen Schokoladenpudding, den ich Sandy spendierte, da sie heute leicht knatschig war, weil sie noch keine Schokolade zu sich genommen hatte.
Nach dem Essen ging es noch für einen Espresso in das angrenzende
Restaurant, wo ich Schokoladen-Harry - ebenfalls ein Pilger aus Baden Württemberg - kennenlernte. Auf ihn werde ich zu einem späteren Zeitpunkt zurückkommen.

... link (0 Kommentare)   ... comment


Dienstag, 20. Juli 2010
Pamplona und die Sierra del Perdón
Zubiri verließen wir Richtung Larrasoana auf herrlichen und einsamen Waldwegen. Die Pyrenäen hatten wir nun endlich hinter uns gebracht. Es ging zwar permanent leicht bergauf und bergab, aber im Vergleich zu den letzten 3 Tagen ein Kinderspiel.
Larrasoana ließen wir rechts liegen und wanderten auf engen Waldpfaden entlang des Rio Arga nach Irotz.


Gemeinsam mit anderen Pilgern legten wir auf einer Brücke, die uns über den Arga führte, eine Rast ein.
Der/die Eine musste Pipi, der Andere hatte einen Stein im Schuh. Der Andere war immer ich! Ich hatte andauernd einen Stein im Schuh. Was mir mitunter nicht unangenehm war. Auf diese Art konnte ich des Öfteren eine kurze Verschnaufpause einlegen. Ich erntete zwar gelegentlich das Gespött meiner beiden Pilgerfreunde:
„Harald hat ein Stein im Schuh.....ätsch....!“, aber was soll´s!
Ein bisschen Spaß musste auch sein. Auch auf einem Pilgerweg!

Nach einem kurzen Stück entlang der N 135 führte uns der Weg anschließend wieder über einsame Feldwege über Arleta nach Huarte.
Während wir auf Arleta zugingen, tauchte eine Hügelkette vor uns auf. Mein erster Gedanke war: „Wir werden doch wohl nicht über den Berg müssen“. Sandy und Christian grinsten.

Der Tag hatte so gut angefangen!

Je mehr wir ihm uns näherten, je deutlicher wurde uns, dass der Weg genau auf den Berg zuführte. Akribisch tasteten meine Augen die Flanken des Berges nach Rucksackträgern ab.
Und dann blickte ich der Wahrheit ins Auge. Etliche Pilger kämpften sich mit langsamen Schritten den Berg empor. Allerdings entging mir auch nicht, dass einige Pilger in die falsche Richtung liefen und den Berg herunter kamen.
??????????

Am Fuße des Berges stießen wir auf eine Pilgergruppe, die uns mitteilten, dass der Anstieg über den Berg total verschlampt sei und sich schon einige dort oben fest gelaufen hatten.
Es gab jedoch eine Alternativroute entlang des Arga. Er floss durch Huarte und auch durch Pamplona.
„Dann lasst uns doch am Fluss entlang laufen“, schlug ich vor. Es kamen keine Einwände und so ging es auf ebenen Wege weiter Richtung Huarte.

„De Köbes“ war heute sehr einsichtig mit mir. Ihm war wohl nicht entgangen, dass ich heute so gut wie nicht geflucht hatte!

In Huarte hatten wir plötzlich unsere Wegweiser aus den Augen verloren. Kein Pfeil, keine Jakobsmuschel war in Sicht. Wir begegneten zwar einigen Pilgern, aber von ihnen lief jeder in eine andere Richtung. Sogar die Einheimischen, die wir nach dem rechten Weg fragten, waren sich nicht einig. Der Eine zeigte nach rechts, der Andere nach links, der Dritte schaute dumm aus der Wäsche und zuckte mit den Schultern.
Zum Glück war Huarte nicht größer als Köln-Müngersdorf. Nach einem ungewolltem Sightseeing fanden wir den Arga wieder, nahmen ihn zu unserer Linken und kurze Zeit später entdeckten wir unseren ersten gelben Pfeil, der uns den Weg nach Pamplona wies.

Für heute hatten wir uns vorgenommen, in Pamplona in der „Casa Paderborn“ zu nächtigen. Diese Herberge wurde von den Jakobusfreunden zu Paderborn geführt und hatte unter Pilger einen sehr guten Ruf. Also nichts wie hin!
Gegen 15:00 trafen wir in der Herberge ein und ergatterten die letzten drei freien Betten. Wir wurden von zwei sehr netten deutschen Hospitaleros empfangen. Mir sind leider ihre Namen entfallen, also nenne ich sie kurz Hans-Dieter und Veronika.
Hans-Dieter führte uns in sein Büro, bat uns an seinem großen alten Schreibtisch Platz zu nehmen und unsere Credenziale vorzulegen.
Ich kam mir vor, als wenn ich in meine Kindheit zurückversetzt wurde und vor meinem damaligen Schuldirektor saß. Hans-Dieter schlug mit ernster Mine sein Gästebuch auf und notierte unsere Personalien. Im Anschluss gab es den Stempel in unser Credenzial, wir zahlten 5,00 Euro für die Übernachtung und 2,00 Euro für das Frühstück. Preisleistungsverhältnis: 5 Sterne oder wie man in Pilgerkreisen sagt: „5 Muscheln“
Auf die Frage hin, ob sie uns etwas zu trinken anbieten könnte, antwortete ich: „Ein Kaffee wäre gut“!
„Kaffee?“, Veronikas Stimme hatte einen leichten vorwurfsvollen Unterton. „Kaffee gibt es hier nicht. Nur Wasser oder Früchtetee.“
Wasser hatte ich für heute schon genug getrunken, also nahm ich einen „leckeren“ Früchtetee.
Während ich ohne knullen und mullen meinen Früchtetee schlürfte, wandte ich mich nochmals an Veronika.
„Und was gibt es morgen zum Frühstück“?
„Kaffee“ und Toast!“
Ich pfiff erleichtert und leise durch die Zähne.

Die Herberge verfügte über eine Waschmaschine und einen Trockner. Veronika bot uns an, sollten wir schmutzige Wäsche haben, diese gerne gegen einen Obolus von 6,00 Euro für uns zu waschen und zu trocknen. Dieses Angebot nahmen wir gerne an, füllten ein Körbchen mit unserer Schmutzwäsche, entrichteten 2,00 Euro pro Nase und zwei Stunden später stand unser Körbchen Buntwäsche im Flur, gewaschen und getrocknet bereit zum Abholen.

„5 Muscheln“

Die Herberge hatte allerdings keine Küche. Man gab uns eine Empfehlung für eine nahe gelegene Pizzeria, die wir am frühen Abend aufsuchten und uns mit einem Pilgermenü stärkten. Natürlich gehörte auch hier zum Menü eine Flasche Rotwein.
0,5 l der 0,75 l Flasche Rotwein flossen durch meine Kehle. Den restlichen Flascheninhalt teilten sich Sandy und Christian.

Nachdem wir unser Menü verzehrt hatten und auch die Flasche keinen Tropfen Wein mehr her gab, machte ich mich leicht angeschossen auf den Rückweg zur Herberge.
Ich hatte einmal wieder die Arschkarte gezogen und belegte erneut ein Bett in der oberen Ebene eines Doppelstockbetts.
Nachdem ich mein Bett nach dem dritten Anlauf erklommen hatte, es mag wohl an dem leckeren Weindl gelegen haben, tauchte mein Bettnachbar auf. Ein Düsseldorfer!!!!! Der kam mir gerade recht!!!
Kölner und Düsseldorfer sind sich im Normalfalle spinnefeind. Wir machten keine Ausnahme und zogen uns gegenseitig hoch. Zur Freude unserer übrigen Zimmergenossen und -genossinnen. Gegen 22:00 schlich sich auch die Ruhe in unser Zimmer ein und alle fielen ins Land der Träume.

Um 6:00 wurden wir erneut mit einem „Ave Maria“ geweckt.
Ich horchte auf!
Saß Hans-Dieter etwa an einem alten Harmonium, pumpte mit immer schwerer werdenden Beinen Luft in den mittlerweile porösen Blasebalg und spielte unter höchster Konzentration, keinen Ton zu vergeigen, für uns das „Ave Maria“??
Stand eventuell Veronika neben ihm und begleitete ihn mit ihrer Stimme???
In einer Sache war ich mir allerdings sicher. Es war ein Harmonium! Ein solches Stück schmückte für einige Jahre mal mein Wohnzimmer.

Nachdem Hans-Dieter den letzten Luftzug aus seinem Blasebalg gequetscht hatte, vielleicht war es auch nur eine CD, warf ich einen Blick aus dem Fenster. Wie sollte es auch anders sein, es goss wie aus Eimern. Seit Beginn meiner Pilgerreise war noch kein Tag vergangen, ohne dass ich unter mein Regencape schlüpfen musste.

Gegen 7:30 waren wir zum Aufbruch bereit. Dummerweise ließen wir uns von Hans-Dieter auch noch unsere Rucksäcke wiegen. In der Annahme mein Sack würde samt 1 Liter Wasservorrat maximal 10 kg wiegen, wurde ich sehr enttäuscht. 12 kg wog der scheiß Sack. Ich schleppte schon seit 4 Tagen einen Rucksack mit mir herum, der für mein Körpergewicht 4 kg zu schwer war. Sandy´s und Christian´s Rucksäcke waren ebenfalls zu schwer und hatten 12 kg.
Langsam wurde ich knatschig. Scheiß Wetter, scheiß Rucksack und der Hinweis von Hans-Dieter „Vergesst nicht, ihr seit Pilger und keine Touristen“!

„Köbes....Köbes....!!!!

Durch zum Teil enge verwaiste Gassen, es war Sonntag und noch keine 8:00, führte uns die Muschel quer durch Pamplona. Wir kamen an einer Bäckerei vorbei, aus deren Eingangstür uns der Duft frisch gebackener Croissants entgegen strömte.
Stopp! Jetzt musste ich mir etwas Gutes tun. Ich ging in den Laden und kaufte jedem von uns drei ein Croissant. Genussvoll ließ ich das Croissant auf meiner Zunge zergehen.
Allmählich besserte sich meine Laune. Nach einer dreiviertel Stunde hatten wir den Stadtrand von Pamplona erreicht. In der Ferne erblickten wir die Sierra del Perdón mit ihren gewaltigen Windkrafträdern. Für heute hatten wir uns vorgenommen, das 22 km entfernte Puente la Reina zu erreichen.

Nachdem wir Pamplona nun endlich hinter uns gelassen hatten, ging es auf gut begehbarem Weg leicht bergauf. An einem herrlich gelegenen Bergsee kurz vor Zariquiegui legten wir eine kurze Rast ein.


Der/die Eine musste Pipi, während ich mal wieder einen Stein im Schuh hatte. Der Anstieg wurde nun zusehends steiler, aber noch immer gut begehbar.
Hinter Zariquiegui verwandelte sich der Weg allerdings in eine reinste Schlamm- und Lehmpiste, was den Aufstieg noch mehr erschwerte. Gelegentlich musste ich anhalten und meine Schuhsohlen von einer dicken Lehmschicht befreien, da es sich lief, wie auf Eiern. Ich wurde zusehends langsamer, während sich Sandy und Christian immer weiter von mir entfernten.
Gegen Mittag lief ich wieder auf die Beiden auf. Sie hatten kurz unterhalb des Bergrückens nochmals eine Rast eingelegt und warteten auf mich.

Das Wetter hatte sich etwas erholt. Mitunter riss die Wolkendecke auf und die Sonne kam zum Vorschein. Voller Stolz blickte ich zurück auf das 10 km entfernt liegende Pamplona. Hier oben herrschte fast absolute Stille. Nur ein leises Surren der Rotorblätter war zu hören.
Nachdem ich mich von den Strapazen der letzten 4 Stunden weitgehend erholt hatte, setzten wir uns wieder in Bewegung. Je näher wir dem Bergrücken entgegen kamen, desto lauter wurden die Windgeräusche der riesigen Rotorblätter, deren Schatten gespenstisch über uns hinweg fegten.
Nach einer knappen halben Stunde hatten wir endlich den Bergrücken erreicht.


Hier oben herrschte ein kräftiger Wind. Wir schossen schnell ein paar Erinnerungsphotos am Pilgerdenkmal, überquerten die Landstraße, die über den Bergrücken führte und schon ging es auf steinigem Weg steil bergab Richtung Puente la Reina.

Da quält mach sich gute 4 Stunden einen Berg hoch, freut sich über das, was man geleistet hat, macht 10 Schritte und schon geht`s wieder bergab!

Nach weiteren 3 km legten wir kurz vor Uterga nochmals eine kurze Pause ein. Bis Puente la Reina waren es noch 5 km. Plötzlich tauchte Alexander aus Wien hinter uns auf. Er war leicht angeschlagen, hatte verhärtete Waden und kühlte permanent mit Eisspray.
In Anbetracht, dass Sandy und Christian noch einen Abstecher nach Santa Maria de Eunate etwas abseits vom Jakobsweg, einem kleinen Kirchlein mit Herberge, die den Templerrittern zugesprochen wurden, ins Auge gefasst hatten, wären nochmals gute 4 km hinzu gekommen. Mir schmerzten mittlerweile die Beine und große Lust am Laufen hatte ich für heute auch keine mehr. Der Alto del Perdón hatte mich mal wieder einiges an Kraft gekostet. Wir kamen überein, dass wir noch bis Uterga laufen und dort in der Herberge übernachten wollten. Alexander schloss sich uns an und wir latschten zu viert weiter.

Es war früher Nachmittag und noch reichlich Platz in der Herberge. Sandy und Christian ließen ihre Rucksäcke zurück und machten sich auf den Weg nach Eunate. Als erstes sprang ich unter die Dusche. Anschließend erklomm ich mein Bett - mal wieder in luftiger Höhe - und hielt ein Schläfchen.
Nach einer guten Stunde war ich weitgehend fit, nahm mein Tagebuch und machte es mir im Aufenthaltsraum auf einem Sofa bequem, machte mir Notizen in mein Tagebuch und ließ die letzten Tage nochmals Revue passieren.
Ich war jetzt den fünften Tag in Folge unterwegs. Hatte fast 90 km hinter mich gebracht und mir noch keine einzige Blase gelaufen.

Gut, dass ich 2,5 Meter Blasenpflaster an Bord hatte!

Zum Nachmittag hin begann es zwar immer in den Waden und den Schulterblättern zu ziehen, aber ansonsten fühlte ich mich gut. Mein Kopf war frei und ich spürte wie mein Inneres immer ruhiger wurde. Wenn ich mal nicht wieder schimpfend wie ein Rohrspatz vor einem Abstieg stand, ließ ich meine Seele baumeln.

Gedanken kamen - Gedanken gingen!

Man lief und lief. Egal wie steinig und schwer der Weg war. Der Mythos Jakobsweg hatte einen in den Bann gezogen. Man wurde angetrieben von einer innerlichen Kraft und den übrigen Pilgern, die einem auf dem Weg begegneten. Alle hatten ein Ziel vor Augen, in Santiago anzukommen.
Sandy, Christian und ich liefen nun auch schon den dritten Tag zusammen. Der Zufall hatte uns zusammengeführt. Man startete gemeinsam, lief eine Zeit lang nebeneinander her, plauderte, diskutierte oder machte Witze.
Immer wieder zog sich unsere kleine Gruppe auseinander. Jeder ging für sich alleine und irgendwann liefen wir wieder aufeinander auf, machten gemeinsam Rast und beratschlagten, in welcher Herberge wir heute nächtigen wollten.
Das war Sandys Ressort. Sie studierte akribisch unsere Reiseführer und fand immer eine gute Herberge für uns. Christian achtete darauf, dass ich ihnen nicht abhanden kam.

Während ich im Aufenthaltsraum so vor mich hin döste, kam mir plötzlich die Situation vom heutigen Morgen in den Sinn, als Hans-Dieter meinen Rucksack gewogen hatte. 12 kg waren effektiv zu viel!
Wie von einer Tarantel gestochen, sprang ich auf, eilte schnellen Schrittes in unseren Schlafraum, schnappte mir meinen Rucksack, warf ihn auf mein Bett und sprang hinterher.
Halt! Jetzt habe ich etwas übertrieben. Ich sprang nicht hinterher, ich hangelte mich hoch. Oben angekommen, nahm ich den Sack, stülpte ihn um und kippte den ganzen Müll auf mein Bett.
Ich hatte wirklich nur das eingepackt, was von Pilgern empfohlen wurde.
Nach dem Motto: Brauche ich, brauche ich nicht, begann ich zu sortieren. Das Häufchen „brauche ich nicht“ fiel allerdings bescheiden aus. Darunter befanden sich 5 Meter Kordel, gedacht als Wäscheleine, brauchte ich nicht. Dafür hatte ich Ersatzschnürsenkel mit eingepackt. Sie würden es auch tun, wenn man sie aneinander knotete. Feuchtes Toilettenpapier, Feuchttücher für die Hände und eine Flasche Desinfektionsmittel.
Mittlerweile waren Sandy und Christian auch wieder von ihrer Stippvisite zurück.
Freundlich wie ich bin, bot ich ihnen die edlen Reiseutensilien „brauche ich nicht“ als Geschenk an. Sie jedoch lehnten dankend ab, nach dem Motto:
„Deinen Scheiß kannst du selber tragen“!
Also alles wieder zurück in den Rucksack. Trennen konnte ich mich von dem Scheiß auch nicht!
Ab Morgen, nahm ich mir vor, üppig zu duschen und die doppelte Menge Duschgel zu verwenden. Mit meiner Zahnpflege würde ich genau so verfahren.
Am Abend nahm ich mit Alexander aus Wien und drei Pilgern, die aus Australien angereist waren, ein Pilgermenü zu mir. Der Wirt war spendabel und stellte uns gleich zwei Flaschen Rotwein auf den Tisch, die von uns bis auf den letzten Tropfen geleert wurden. Der Wein war vorzüglich und ich bekam große Lust, mir kräftig einen auf die Lampe zu gießen. In Anbetracht, dass morgen wieder Laufen angesagt war, verzichtete ich allerdings darauf und ging brav ins Bett.

... link (0 Kommentare)   ... comment


Donnerstag, 8. Juli 2010
Die Pyrenäenüberquerung
Am folgenden Morgen wurde ich gegen 5:30 durch das Rascheln von Plastiktüten geweckt. Die ersten Pilger machten sich langsam startklar. Man man kann sich nicht vorstellen, was eine blöde Plastiktüte für einen Lärm verursachen kann. Eine Stunde später war an Schlaf nicht mehr zu denken.
Da ich mir unachtsamer Weise das Bett ausgesucht hatte, das am Nächsten an den sanitären Anlagen stand, musste natürlich jeder unmittelbar an mir vorbei.
Vorsichtig streckte ich alle Glieder von mir um zu testen, ob der gestrige Tag irgendwelche Schäden an meinen Gliedmaßen hinterlassen hatte.
Nichts! Kein Muskelkater, kein Ziehen in den Schulterblättern. Ich war fit wie ein Turnschuh. In bester Laune sprang ich aus dem Bett.
Gegen 7:30 saßen wir, Sandy, Hannelore, Christian und ich, als Letzte am Frühstückstisch. Die Herberge war schon so gut wie leer. Die letzten Pilger waren gerade im Aufbruch. Um 8:00 eilte ich kurz in den einzigen Krämerladen im Ort, kaufte mir eine neue Zahnbürste und ein paar Trekkingstöcke. Mein Blick klebte zwar für einen kurzen Augenblick auf einem Pilgerstab für 5.90 Euro, ermahnte mich jedoch zur Räson und griff mir zielsicher, wie sollte es auch anders sein, die teuersten Stöcke. Das Paar für 20,00 Euro. Allerdings mit eingebauten Stoßdämpfern.

Man gönnt sich ja sonst nichts!

Der Verkäufer erklärte mir in seinem spanischen Kauderwelsch die Handhabung und das Einstellen der Stocklänge. Ich hörte aufmerksam und interessiert zu, obwohl ich keine Silbe verstand. Als Pilger galt ja Höflichkeit als oberstes Gebot. An Hannelores Stöcken nahm ich kurz Maß und wir verließen gegen 8:30 die Herberge.

Gleich zu Anfang ging es kräftig bergauf. Sandy mit ihren 26 und Christian mit seinen 32 Jahren kamen natürlich schneller voran als Hannelore und ich und waren schon nach kurzer Zeit verschwunden.

Hannelore war letztes Jahr mit ihrer Freundin schon den Camino von Leon aus nach Santiago gelaufen. Jetzt hatten sie sich vorgenommen, die Pyrenäen von Saint Jean Pied aus zu überqueren und bis Bourgos zu laufen. Ihre Freundin hatte den Weg über den gesperrten Ciza-Pass genommen, um nach Roncesvalles zu gelangen, wo sich die beiden für den heutigen Tag verabredet hatten.

Der Weg führte uns mal ein Stück über die Landstraße, dann wieder über Waldwege vorbei an einsamen Berghöfen, durch Wälder, über Bäche, vorbei an Weiden, auf denen zum Teil Schafe grasten. Es ging mal rauf und wieder runter. Ich war fasziniert von der Schönheit der Landschaft. Es war ein Traum! Der allerdings ein schnelles Ende nahm, als der Weg immer steiler wurde.

Der Anstieg
Der Anstieg

Jetzt machte sich meine jahrelange Raucherei bemerkbar. Ich wurde zusehends langsamer, da mir die Puste ausging und ich immer öfters einen kurzen Stopp einlegen musste. Zu allem Übel stand ich auch noch mit meinen neu erworbenen Trekkingstöcken auf Kriegsfuß.
So zielsicher hatte ich in meiner Jugendzeit keinen Ball getroffen, wie ich mir die Stöcke wegschoss oder sie mir zwischen meine Beine in den Weg stellte. Hinzu kam, dass ich einen der Stöcke nicht richtig justiert hatte und er nach einiger Zeit immer kürzer wurde. Normalerweise wäre dieser Stock spätestens nach dem dritten Mal nachjustieren über den nächsten Zaun geflogen, aber man war ja Pilger und es gehörte sich nicht, sich zu solchen Wutausbrüchen hinreißen zu lassen.
Hannelores Kondition war wesentlich besser als meine und auch sie entfernte sich immer weiter von mir, bis sie schließlich aus meinem Blickfeld verschwand.
Meine Schritte wurden zusehends langsamer und kleiner. Ich spürte wie mein Herz in meiner Brust pochte. Meine Waden schmerzten und der scheiß Rucksack zog mal wieder an meinen Schulterblättern. Ich pfiff aus dem letzten Loch. Erneut musste ich einen Halt einlegen. Ich stützte mich auf die Trekkingstöcke, rang nach Luft und blickte zurück. Weit und breit war keine Menschenseele zu sehen. Ich war ganz alleine!
Für einen Augenblick dachte ich: „Wenn Du jetzt umfällst, war es das gewesen“. Jedoch Angst verspürte ich bei diesem Gedanken keine. Ich hatte das Gefühl, als wenn eine schützende Hand über mir schwebte.
Jetzt hieß es die Ruhe zu bewahren. Ich atmete kontrolliert langsam und tief ein und aus und merkte wie das Pochen in meiner Brust allmählich nachließ. Nach einer guten Minute hatte sich mein Herzschlag wieder regeneriert. Von nun an nahm ich mir vor, einhundert Schritte zu gehen, einen kurzen Stopp einzulegen, um ein erneutes Pochen in meiner Brust erst gar nicht mehr aufkommen zu lassen.
Ich ging weiter und begann zu zählen. Eins...zwei...drei....
Immer wieder blickte ich bis zur nächsten Wegbiegung. Der Anstieg wollte kein Ende nehmen und zerrte an meiner Psyche. Wie lange sollte das noch so weiter gehen? Gelegentlich wurde ich von Pilger überholt, die weitaus besser konditioniert waren als ich. Man grüßte kurz mit einem “Buen Camino“ und jeder ging seinen Weg.

Dieter aus Freiburg lief auf mich auf. Auch ihm stand die Anstrengung im Gesicht geschrieben. Wir pausierten einen Augenblick, reichten uns gegenseitig die Wasserflaschen, die seitlich in unseren Rucksäcken steckten und ohne fremde Hilfe für einen selbst nicht erreichbar waren, ohne den Rucksack vorher abnehmen zu müssen. Ich klagte ihm, dass der Blick nach vorne auf den nicht endenden Anstieg sehr an meinen Nerven zerrte. Er gab mir den Rat, meinen Blick beim Gehen vor die Füße zu richten, als wenn ich ein Cent Stück auf dem Boden suchte. So würde es sich leichter laufen.
Kurz nachdem wir wieder gestartet waren, entfernte auch er sich relativ schnell von mir.

Er hatte Recht. Es lief sich wesentlich leichter, wenn man nicht permanent nach vorne schaute. Mit Gegenverkehr war ja nicht zu rechnen, da im Allgemeinen bekannt ist, dass es sich bei dem Jakobsweg um eine Einbahnstraße handelt und alle Pilger in die gleiche Richtung laufen.
Schritt für Schritt schleppte ich mich den Pass hinauf in der Hoffnung, bald den ersehnten Gipfel zu erreichen. Je höher ich kam, je weißer wurde es um mich. Kurze Zeit später hatte ich eine dicke Schneedecke unter meinen Füßen.
Während ich mich keuchend den Anstieg hoch schleppte, lief ich auf eine junge Amerikanerin auf. Auch sie hatte erhebliche Probleme. Als ich mit ihr auf gleicher Höhe war, blicke sie mich mit Tränen in den Augen an und sagte: „Where is the town?“
„I don´t know“, antwortete ich.
Ich hatte selbst keine Ahnung, wie lange der Anstieg noch andauern würde. Sie schaute sich kurz um und rief hinunter ins Tal: „Mom, it`s ok?“
„It`s ok, baby“, hörte ich ihre Mutter aus dem Tal antworten.
Diese kurze Begegnung vermittelte mir, dass ich nicht der Einzige war, dem der Anstieg erhebliche Probleme bereitete; es gab mir Mut und eine gewisse innerliche Ruhe.
Kurze Zeit später hörte ich Stimmen. Ich blickte hoch und erkannte im Nebel einige Pilger, die beieinander standen und sich unterhielten. In der Hoffnung, nun endlich den Gipfel erreicht zu haben, mobilisierte ich meine letzten Kräfte und brachte die letzten 50 Meter hinter mich. Dieter aus Freiburg war ebenfalls unter ihnen. „Du hast es geschafft!“, rief er mir zu.

Gott sei Dank!!!

Ich warf erleichtert meinen Rucksack ab und blickte zurück. Ich hatte es geschafft. Ich hatte den Gipfel erreicht. 700 Höhenmeter waren bewältigt.

Glücksgefühle flossen durch meinen Körper.

Auf dem Gipfel
Der Gipfel

Bis zur Gipfelkapelle, die sich hinter einer Nebelwand verbarg, waren es noch 200 Meter. Dieter, der bereits wieder im Aufbruch war, meinte, ich sollte die Abkürzung durch die angrenzende Wiese nehmen, ich würde dann gleich auf die Landstraße stoßen, die zum Kloster Roncesvalles führte. Er verabschiedete sich mit einem „Buen Camino“ und war Augenblicke später im Nebel verschwunden.

Jetzt gönnte ich mir eine kurze Rast, stärkte mich mit einem Baguette und etwas Obst und machte mich kurze Zeit später wieder auf den Weg.
Nachdem ich den Scheitelpunkt des Ibaneta-Pass auf 1057 Meter überschritten hatte und es nun über die Landstraße bergab ging, waren die Strapazen der letzten 4,5 Stunden vergessen. Frohen Mutes und in bester Laune schritt ich auf Roncesvalles zu.

Als ich in der Klosteranlage eintraf, winkten mir von weitem Sandy und Christian zu. Sie waren schon vor einer knappen Stunde hier eingetroffen. Mit Hannelore hatten sie auch schon gesprochen, sie hatte sich im Hotel des Klosters eingebucht und wartete auf die Ankunft ihrer Freundin.
Und wie sieht es mit Schlafen aus?
Sie zeigten auf einen großes Jahrhunderte altes Bruchsteingebäude außerhalb der Klosteranlage. „Da drüben ist die Herberge!“
An den Flanken befanden sich kurz unterhalb der Dachrinne drei kleine Fenster, die nicht größer als Schießschächte waren und ursprünglich wohl auch dafür gedacht waren.
In Anbetracht, dass in Roncesvalles die Außentemperatur nicht weit über dem Gefrierpunkt lag, war unser erster Gedanke, sollte die Herberge nicht über eine Heizung verfügen, wir mit Sicherheit in der kommenden Nacht uns einen kalten Hintern holen würden.
Also ab ins Pilgerbüro und als Erstes die Frage geklärt: Heizung? Ja oder nein?
Man versicherte uns, dass das Gebäude beheizt sei, worauf wir den Entschluss fassten, hier zu nächtigen.
Die Herberge wurde um 14:00 geöffnet. Wir hatten noch etwas Zeit und nahmen im Klosterrestaurant einen heißen Kaffee zu uns. Kurz vor 14:00 begaben wir uns zur Herberge. Es hatten sich vor dem Eingang schon einige Pilger versammelt, die ebenfalls heute hier nächtigen wollten. Wir gesellten uns zu ihnen und warteten darauf, dass sich die Pforte öffnete.
Als Erstes mussten wir, nachdem man uns Einlass gewährte, unsere Schuhe ausziehen und in ein bereit stehendes Regal, das sich gleich neben dem Eingang befand, abstellen. Die Herberge durfte nicht mit Straßenschuhen betreten werden. Aus hygienischen Gründen, versteht sich.

Wir ergatterten gleich neben dem Eingang drei Betten in einer Ecke. Die Herberge bot 80 Pilger ein Nachtlager in tristen eisernen Doppelstockbetten. Das unverputzte fast schwarze Bruchsteingemäuer war zu anfangs etwas gewöhnungsbedürftig, jedoch nach einiger Zeit - je mehr sich die Herberge füllte - entstand eine angenehme Atmosphäre. Der Saal wurde durch drei vom Giebel herabhängende runde Leuchter und den sechs kleinen Schießschächten belichtet. Sie gaben dem Raum ein leicht schummriges Licht. Im Kellergeschoss befand sich eine großräumige saubere Sanitäranlage, ein Aufenthaltsraum mit Telefon, Internet und Getränkeautomaten. Trotz des kahlen dunklen Bruchsteingemäuer strahlte die Herberge eine angenehme Atmosphäre aus.

Den Rest des Tages verbrachte ich in der Horizontale und erholte mich von den Strapazen der vergangenen Stunden.
Um 19:00 ging ich ins Klosterrestaurant, wo ich bei meiner Ankunft ein Pilgermenü vorbestellt hatte. Der Kellner wies mir einen Platz an einem Vierertisch zu. Mit mir am Tisch saßen ein Kanadier, eine Französin und ein Engländer. Die Atmosphäre war gleich zu Anfang freundlich und nett. Man stellte sich mit seinem Vornamen und seiner Nationalität vor.
Zur Vorspeise gab es eine Terrine mit einer kräftigen Gemüsesuppe. Der Kanadier begann sofort mit der Verteilung der Suppe und füllte unsere Teller. Als Hauptgang wurde eine Forelle mit Fritten serviert und zur Nachspeise einen Joghurt. Eine Karaffe Rotwein und Wasser gehörten ebenfalls zum Pilgermenü und wurden von uns bis auf den letzten Tropfen geleert. Insbesondere der Rotwein!
Um 20:00 ging es gemeinsam in die Pilgermesse. Als Erstes wurden alle anwesenden Nationalitäten begrüßt. Es befanden sich Pilger aus den USA, Kanada, Brasilien, Südafrika, Australien, Kambodscha Korea, sowie aus fast allen EU-Länder unter uns.
Die Patres gaben Gas und nach einer halben Stunde war die Messe gelesen. Zum Schluss wurden alle Pilger zum Altar gebeten und man empfing seinen Pilgersegen.

Jetzt konnte ja nichts mehr schief gehen!

Zurück in der Herberge kroch ich in meinen Schlafsack und bewegte mich keinen Millimeter mehr.
Kurz vor 22:00 traf noch eine Pilgerin aus Bayern ein und belegte das letzte noch freie Bett über mir. Sie hatte sich leicht einen auf die Lampe gegossen und war sehr redefreudig. Der Herbergsvater hatte ihr ans Herz gelegt sich zu beeilen, da ab 22:00 Nachtruhe herrschte.
Um 22:00 wurde ein „Ave Maria“ eingespielt. Anschließend gab es einen dumpfen Knall und die Herberge lag im Dunkeln. Die Pilgerin über mir, unterhielt sich noch lautstark mit ihrem italienischem Bettnachbarn, worauf der Herbergsvater einschritt und sie zur sofortigen Ruhe ermahnte.
Schlagartig war Ruhe im Saal. Bis auf ein paar Schnarcher am anderen Ende des Saals, die weiterhin fröhlich um die Wette schnarchten. Kurze Zeit später fiel ich in das Land der Träume.

Am folgenden Morgen um 6:00 wurde das Licht wieder eingeschaltet. Mit einem leisem und immer lauter werdenden „Ave Maria“ holte man uns sanft aus dem Schlaf. Als erstes warf ich mir meinen alltäglichen Chemiecocktail ein und machte mich startklar. Da es kein Frühstück gab, nahm ich zwei Espresso auf ex und ging raus in die Kälte. Es hatte die Nacht über gefroren und war zum Teil noch glatt auf der Straßen.

Wir, Sandy, Christian und ich, verließen Roncesvalles Richtung Burguete. Unser Ziel für heute war das 23 km entfernte Zubiri. Anfangs lahmten meine Beine noch ein wenig, was jedoch nach einer halben Stunde, nachdem ich mich eingelaufen hatte, wieder nachließ.
Bei angenehmer Kühle und strahlendem Sonnenschein lief es sich bequem teils über Asphaltstraßen, Wald und Feldwegen nach Burguete, leicht bergab. Im dortigen Krämerladen deckten wir uns mit Lebensmittel für den heutigen Tag ein und weiter ging es.

Sandy und Christian
Sandy und Christian

Zwischen Burguete und Espinal führte uns der Weg durch eine herrliche Grünkulisse, vorbei an Weiden durch Wälder über kleine Bachläufe. Immer wieder blickten wir zurück und genossen die Fernsicht und das Panorama der Pyrenäen.
Zwischen Espinal und Linzoáin war es dann mal wieder vorbei mit lustig. Auf jeden Fall für mich!
Der erste kurze aber heftige Anstieg stand bevor.
„Ich könnte kotzen“, sprudelte es aus meinem Mund. „Derjenige, der sich diese Streckenführung ausgedacht hatte, der konnte doch nicht alle Tassen im Schrank gehabt haben“ schimpfte ich wie ein Rohrspatz, während ich mich den Anstieg hoch kämpfte. Hatte ich gestern nicht schon genug gelitten?

Köbes (kölscher Name für Jakob), Du machst es einem aber wirklich nicht leicht!!!

Etwas zur Historie:
In den Kölner Brauhäusern werden die Kellner „Köbes“ genannt. Dieser Ausdruck stammt noch aus dem frühen Mittelalter. Viele Pilger, die auf dem Weg nach Santiago über Köln kamen, machten dort Halt und verdienten sich in den Kölner Brauhäusern Geld für ihre Weiterreise. Dies blieb auch den Kölnern nicht verborgen und so wurde aus einem Jakobspilger mit der Zeit ein „Köbes“.

Sandy und Christian kamen natürlich wesentlich schneller aus den Socken und waren schon nach kurzer Zeit hinter der nächsten Wegbiegung verschwunden. Ich hingegen hatte schon nach kurzer Zeit wieder mal die Zunge aus dem Hals hängen und musste einen Zwischenstopp einlegen. Als ich endlich den Anstieg geschafft hatte, saßen die beiden auf Baumstümpfen und frühstückten bereits.

Blick auf die Pyrenäen
Die Pyrenäen

Die Landschaft wurde nun zusehends hügeliger. In Linzoáin legten wir eine Mittagsrast ein, bevor uns der Weg nun stetig bergauf über den auf 800 Meter gelegenen Erro-Pass führte.
Anfangs noch erleichtert, dass es nun endlich bergab ging, machte sich der Abstieg nach Zubiri, das in einem Tal liegt, schon nach einiger Zeit in meinen Kniegelenken bemerkbar. Sie begannen durch das permanente Abfedern zu schmerzen.

Nach einer guten Stunde passierten wir die mittelalterliche Brücke von Zubiri. Gleich hinter der Brücke befand sich eine private Herberge. Sie sah zwar nicht besonders einladend aus, jedoch in Anbetracht, dass es schon relativ spät war und zumindest mir der heutige Tag einiges an Kraft gekostet hatte, entschieden wir uns hier zu nächtigen, da es bis nach Larrasoana, wo sich die nächste Herberge befand, nochmals 5 km zu laufen gewesen wären.

Wie gesagt, die Herberge bot das Nötigste auf engstem Raum an sanitären Anlagen und Aufenthaltsmöglichkeiten. Wir belegten die letzten Betten in einem 8 Bettzimmer. Dieses Mal zog ich die Arschkarte und bekam ein Bett in der oberen Ebene.
Mit uns belegte ein spanisches Ehepaar, zwei Amerikanerinnen und ein Franzose das Zimmer. Als Erstes versuchte der Spanier, Christian einen Job als Herba-Life Vertreter aufzuschwatzen. Im Anschluss, ich war gerade im Begriff meinen Rucksack in mein Spind zu hieven, öffnete sich wie von Geisterhand das untere Spind und der darin befindliche Rucksack meines Bettnachbarn fiel mir zu Füßen. Der Versuch den Rucksack wieder in sein Spind zu verbannen, endeten kläglich. Das Scheiß-Ding wollte partout nicht in seinem Spind bleiben. Jedes Mal, wenn ich die Spindtüre schloss, öffnete sie sich wieder und der blöde Sack kam mir entgegengeflogen.
Ich malte mir aus, wie blamabel für mich die Situation enden könnte, wenn jetzt plötzlich der Franzose in der Türe stehen würde.
Mit Sicherheit wäre sein erster Gedanke: „Was hat der an meinem Spind zu suchen?“
Nachdem auch der Versuch scheiterte die Spindtüre mit meinen Trekkingstöcken zu verkeilen, blieb mir nichts anderes übrig, als meinen Rucksack als Gegengewicht zu nutzen, ihn vor seine Spindtüre zu stellen, um den widerspenstigen Sack in Raison zu halten.
Das Etagenbett mir gegenüber wurde von den beiden Amerikanerinnen belegt. Eine der beiden hatte sich bereits gegen 21:00 in ihr Bett verkrochen. Eine große schwarze Augenbinde schmückte ihr Gesicht.
Es sah bescheuert aus. Ich grinste sie an und streckte ihr die Zunge heraus, um zu testen, ob das blöde Ding auch das hielt, was es versprach.
Keine Reaktion!
Trotz meines gesunden Schlafs schreckte ich nachts auf. Der Spanier lamentierte lauthals mit seiner Frau. Was ging denn hier ab? Konnten die beiden ihre Unstimmigkeiten nicht tagsüber abklären, musste das ausgerechnet mitten in der Nacht sein?
Das Palaver war Gott sei Dank nicht von langer Dauer, der Spanier beruhigte sich wieder und Minuten später fiel ich wieder in einen Tiefschlaf.
Am frühen Morgen wurde ich durch Geräusche im Waschraum, der direkt an unser Zimmer grenzte, geweckt. Ich fühlte mich ausgeschlafen und blinzelte, ohne meine Augen richtig zu öffnen oder meine Brille aufzusetzen, auf meine Armbanduhr.
6:30, Zeit zum Aufstehen!
Die Betten meiner amerikanischen Bettnachbarn waren bereits leer. Als ich den Waschraum betrat, stand eine von ihnen am Waschbecken und frisierte sich gerade. Ich gesellte mich zu ihr und begrüßte sie freundlich: „Good morning.“
Sie allerdings warf mir einen bitterbösen Blick entgegen.
Was ist denn in diese blöde Kuh gefahren. Hatte sie vielleicht etwas gegen mich? Ich war mir keiner Schuld bewusst. Oder???
Litt ich etwa unter Schlafwandlerei? Hatte ich in der vergangenen Nacht vielleicht schlaftrunken mein Bett verlassen, war zu ihr ins Bett gestiegen und hatte versucht mich an sie zu kuscheln???
Im gleichen Augenblick betrat ihre Freundin den Waschraum.
„Was he?“ und deutete auf mich.
„No, he does not!“, antwortete sie. Ihre Gesichtszüge nahmen daraufhin eine freundliche Form an und beide begrüßten mich ebenfalls mit einem „Good morning“.
Von der Situation etwas überfordert, konzentrierte ich mich auf meine Körperpflege. Eine halbe Stunde später saß ich im Frühstücksraum bei einem Espresso, um meine Lebensgeister zu mobilisieren. Die beiden Amerikanerinnen hatten bereits die Herberge verlassen. Neben mir stand ein junger Mann aus Kambodscha und bereitete sich durch Stretching-Übungen auf den bevorstehenden Tagesmarsch vor. Ansonsten war es noch verdächtig ruhig in der Herberge. Ich blickte auf meine Uhr und stutzte. 6:00?
Hatte ich mich doch tatsächlich beim Aufwachen verlesen und war bereits um 5:30 aufgestanden. So ein Scheiß!
Ich überlegte nochmals ins Bett zu steigen, verwarf den Gedanken, zog mir noch einen Espresso rein, drehte mir eine Zigarette und ging vor die Herberge eine qualmen.
Nachdem auch Sandy und Christian aufgestanden waren und beim Frühstück saßen, erzählte ich ihnen die prekäre Situation, die mir am heutigen Morgen im Waschraum mit den beiden Amerikanerinnen widerfahren war.
Sie berichteten mir, dass in der vergangenen Nacht der Spanier so laut geschnarcht hatte, dass eine der beiden Amerikanerinnen zu ihm ans Bett geeilt war und ihm einen fürchterlichen Einlauf verpasst hatte.
Allem Anschein nach hatte wohl die andere Amerikanerin gedacht, ich wäre der vermeintliche Schnarcher gewesen.

Gegen 7:30 waren wir startklar und machten uns bei kühlen Temperaturen und bewölkten Himmel auf den Weg ins 22 km entfernte Pamplona.

Der nächste Artikel "Pamplona und der Sierra del Perdón" erscheint in ca. 3Wochen.

... link (0 Kommentare)   ... comment